Über die Grenzen von Skulptur und Lyrik – Zehra Çırak zu Gast am IFC
Unter »Zehra Çırak« liest man bei Wikipedia »deutsche Dichterin türkischer Abstammung«. Die Selbstbeschreibungsrelevanz einer solchen Aussage kann man vielleicht nicht bezweifeln; dass sie irgendetwas über den vielfältigen Werkbaum und den intellektuell tief reichenden Anspruch der Autorin auch nur ansatzweise erklären könnte, muss man jedoch bezweifeln. Denn Zehra Çırak lässt sich wahrlich nicht auf Kategorien einer Reisepassliteratur oder Migrationsautorin reduzieren; und das stellte sie als Poetikdozentin des Internationalen Forschungszentrums Chamisso-Literatur (IFC) in München einmal mehr unter Beweis: Mit ihrer Darstellung von Neun mal drei Stühle zu Ehren der Wissenschaften entfachte die Autorin an der LMU eine Diskussion um die perspektivgebundene Schwierigkeit wissenschaftlicher Terminologiebildung und hielt darüber hinaus vom 24. – 28. November Lesungen und Workshops an verschiedenen Münchener Schulen.
Mit Sprachsehgewohnheiten brechen – Für eine Didaktik alternativer Schreibwelten
Ein »Schwalbenteppich« (Çirak 2011:123) fliegt im »Zack zum Zick« und die Augen des wandernden Blickes stürzen »wie Mücken« blickabwärts in den Innenhof eines Hauses. Über den »Dächern von Marrakesch« verwandeln sich kurze Eindrücke zur Fremde in poetisch zauberhafte Sprachbilder, mit denen die Autorin kurzerhand auch festgefahrene Sprachkonventionen in Frage stellt.
Es ist vielleicht hilfreich, sich ein Wortpaar oder eine -komposition im Werk Zehra Çıraks als geografische Landschaft vorzustellen. Die Eckpunkte oder den Rahmen dieses Gemäldes bilden dann Wortkombinationen wie »Daheim auf Menschenreise« oder »Liebesschlussverkauf« (ebd.118) und erzeugen ein semantisch subversives, mit den Sprachsehgewohnheiten brechendes Kontextfeld, in dem sich Lesende neu bewegen und entdecken. Beide Endpunkte dieser Landschaft ziehen weitere Wörter nach sich. Um beispielsweise das Wort »Geld« näher zu bestimmen, könnte man das semantische Feld durch verschiedene Verben erweitern, also sein Geld verdienen, erarbeiten, erkämpfen oder verschwenden, wobei aus diesem Angebot die meisten unter uns das Verb verschwenden aus dem Katalog streichen wollen. Es deckt sich trotz der geläufigen Nomen-Verb-Verbindung nicht mit der Bedeutung der anderen Verben. Mit sprachkulturellen Denkstilen wie diesen spielt Zehra Çırak; dezent, weder aufdringlich noch aggressiv. Stattdessen tasten sich ihre Texte an den Leser langsam heran und fordern ihn heraus wie in der Erzählung »Möwen, gesteinigte« (32-33): Das durch das Komma getrennte und nachgestellte Wort »gesteinigte« sorgt beim Leser für Irritationen. Wer steinigt hier eigentlich wen und was beschreibt hier wen näher? Warum muss der nachdenkliche Max beim Versuch, Möwen mit Steinen zu bewerfen, sich dreimal selbst mit den herabregnenden Steinen steinigen lassen, bis ihm sein verschlafenes Rendezvous mit dem Mädchen Viola doch noch verziehen wird?
Die Workshops und Lesungen an Münchener Schulen ließen die Schülerinnen und Schüler in ähnlichen Sprachbildern ihre eigenen Assoziationen zu Blatt bringen. Mit der Revision von eingeschliffenen Sprachsehgewohnheiten entdeckten dabei nicht wenige ihr eigenes, Literatur schaffendes Talent. Und mit Schüler-rückmeldungen, sich so etwas bisher »nie zugetraut zu haben«, wurde deutlich, dass Zehra Çıraks Literaturvermittlung mehr als nur zweckmäßig ist.
»Vorurteil, jedes Wort« – Neun mal drei Stühle zu Ehren der Wissenschaften
Grundsätzlicher, aber keineswegs unkonkreter wurde es an der LMU München: Zehra Çırak präsentierte ihre Auswahl einer aus insgesamt 27 Wissenschafts-Stühlen bestehenden Serie, die in der Zusammenarbeit des Künstlerpaars Jürgen Walter (Bildhauer und Performance-Künstler) und Zehra Çırak (Lyrikerin) entstanden sind. Die Skulptur-Objekte wurden mit lyrischen Texten und Sprachbildern beschrieben, die sich mit den Natur- und Geisteswissenschaften beschäftigen. Verschiedene Forschungsbereiche werden in dieser Montage einer kritischen oder ironischen, aber stets respektvollen künstlerischen Sicht unterzogen.
Im folgenden Screenshot aus dem Menü der DVD Die Kunst der Wissenschaft (2013) sind 15 Lehrstühle zu sehen, die jeweils eine wissenschaftliche Disziplin repräsentieren. Jeder Stuhl ist in seiner Form einzigartig und setzt man sich auf den Stuhl der Philosophie, ertönt die Stimme der Lyrikerin mit einem Titel, der durchaus als Programmatik des ganzen Abends verstanden werden darf: »Vorurteil, jedes Wort«. Bleiben wir zunächst bei dieser Aussage und betten es in die Komposition von Skulptur und Lyrik um den Gegenstand Wissenschaft ein. Demnach hat die Wissenschaftslehre nicht nur Gehalt, sondern auch eine Form und ihre Vermittlung ist immer die Wissenschaft von etwas, aber nicht dieses etwas selbst. Somit wäre aber das Wissen als eine Praxis zu verstehen und je nach Stuhl verändert sich auch das Kleid, das es trägt. Ein reiner Inhalt der Wissenschaft ist somit nicht vermittelbar, denn die Terminologie definiert sich als präsupponiertes Bild durch Abgrenzung zum anderen – ganz gleich ob sie sich Literaturwissenschaft, Anthropologie oder Medizin nennt.
Was bleibt, ist ein Aspekt der Struktur. Es war wohl dieser Ansatz der Abgrenzung und die Unmöglichkeit einer reinen wertfreien Wissenschaftspraxis, die im Anschluss des Vortrages zu einer hitzigen Debatte unter den Studierenden führte. Denn wie kann ein Fach, das sich selbst mit dem Attribut »interkulturell« schmückt, auf gleicher Augenhöhe zwischen den Stühlen verschiedener Wissenschaftskulturen wandern, wenn es doch selbst in der Terminologie des eigenen Denkstils gefangen ist?
Wenn Kunst – unter Rückgriff auf die Romantiker – als Medium der Reflexion zu verstehen ist, dann hat Zehra Çırak der Wissenschaft mit diesem Abbild den Spiegel vorgehalten. Indes: über den immanenten ikonischen Sinn der Präsentation wurde im Plenum wenig geredet, was wohl der Tatsache geschuldet ist, dass wir alle auf dem Stuhl der Sprache sitzen geblieben sind. Aber dies ist wohl die parodistische Qualität im Werk von Zehra Çırak und Jürgen Walter.
Zur Poetikdozentin Zehra Çırak
Die 1960 in Istanbul geborene und seit 1963 in Deutschland lebende Schriftstellerin Zehra Çırak erhielt 1987 und 1992 das Arbeitsstipendium des Berliner Senats für Kultur und 1989 den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis sowie 2001 den Hauptpreis. Im Rahmen des vom IFC organisierten Münchener Lesefestes hielt Zehra Çırak im März 2014 Lesungen und Workshops an bayerischen Schulen.
Literatur von Zehra Çırak
Çırak, Zehra (1987): Flugfänger. Gedichte mit Illustrationen von Jürgen Walter. Karlsruhe: artinform.
Çırak, Zehra (1991): Vogel auf dem Rücken eines Elefanten. Gedichte. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Çırak, Zehra (1994): Fremde Flügel auf eigener Schulter Gedichte. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Çırak, Zehra (2000): Leibesübungen. Gedichte. 1. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Çırak, Zehra (2008): In Bewegung. Gedichte und Prosaminiaturen. Erstausg., 1. Aufl. Berlin: Verlag Hans Schiler.
Çırak, Zehra (2011): Der Geruch von Glück. Erzählungen. Erstaufl. Berlin: H. Schiler.
Çırak, Zehra; Hasty, Will; Merkes, Christa (Hg.) (1996): Zehra Çırak, Gedichte. Şinasi Dikmen, Satiren. München: Goethe-Institut (Werkheft literatur, Pädagogische Verbindungsarbeit).
Çırak, Zehra; Walter, Jürgen (2013): Die Kunst der Wissenschaft – The Art of Science. Neun mal drei Stühle zu Ehren der Wissenschaften – Nine Times Three Chairs in Honor of the Sciences. 1. Aufl. s.l: Verlag Hans Schiler.
Forschungsliteratur zu Zehra Çırak
Fachinger, Petra (2001): Rewriting Germany from the margins. \“other\“ German literature of the 1980s and 1990s. Montreal, Ithaca: McGill-Queen’s University Press.
Goertz, Karein (1997): Borderless and Brazen: Ethnicity Redefined by Afro-German and Turkish German Poets. In: The Comparatist 21 (1), S. 68–91.
McGowan, Moray (2000): ‚The Bridge of the Golden Horn‘: Istanbul, Europe and the ‚Fractured Gaze from the West‘ in Turkish Writing in Germany. In: Andy Hollis (Hg.): Beyond Boundaries: Textual Representations of European Identity. Amsterdam, Netherlands: Rodopi (Yearbook of European Studies 15), S. 53–69.
Öztürk, Kadriye (2004): Orte und Sprachen der Erinnerung in der deutsch-türkischen Migrantenliteratur am Beispiel von Zehra Çıraks Gedichten. In: Manfred Durzak, Nilüfer Kuruyazıcı und Canan Şenöz Ayata (Hg.): Die andere Deutsche Literatur. Würzburg, Germany: Königshausen & Neumann, S. 154–161.
Palermo, Silvia (2011): Die Kunst der Wissenschaft/L’arte della scienza. Performance e progetto multimediale di Jürgen Walter e Zehra Çırak. In: Testi e Linguaggi 5, S. 327–343.
Thore, Petra (2010): Die vielen Enden des Schwebebalkens. In: Bo Andersson, Gernot Müller und Dessislava Stoeva-Holm (Hg.): Sprache-Literatur-Kultur: Text im Kontext. Uppsala, Sweden: Uppsala University (Acta Universitatis Upsaliensis, Studia Germanistica Upsaliensia (AUUSGU): 55), S. 289–294.
Veteto-Conrad, Marilya (1999): ‚Innere Unruhe‘? Zehra Çırak and Minority Literature Today. In: RMR 53 (2), S. 59–74.
William, Jennifer Marston (2012): Cognitive poetics and common ground in a multicultural context. the poetry of Zehra Cirak. In: The German Quarterly 85 (2), S. 173–192.