Zehra Çirak: „Das Salz kennt kein Nationalgericht“ von Tanja Dückers

 

 

Zehra Çırak in ihrer Wohnung | © Yves Noir

Zehra Çırak in ihrer Wohnung | © Yves Noir

 

 

Beim Besuch von Zehra Çırak in deren Schöneberger Wohnung verrät die türkischstämmige Schriftstellerin und Performerin, dass sie mit Nationalität eigentlich gar nichts zu tun haben will und sich am liebsten als Berlinerin versteht. Dort hat sie an der Seite von Objektkünstler Jürgen Walter poetische Objektwelten auf Augenhöhe geschaffen. Dabei versucht sie in ihren Werken immer wieder mit Nationalismen zu brechen, vor allem ihren eigenen.

Knallrote Jacke, roter Lippenstift: Die Schriftstellerin und Performerin Zehra Çırak sitzt mir aufrecht, fast ein wenig gebieterisch, in ihrer Küche gegenüber. Ihre Wohnung ist streng in Schwarz und Weiß gehalten. Zehra Çırak liebt die Kontraste. Man fühlt sich aber auch ein wenig als hätte man sich in ein Werk Victor Vasarelys verirrt – auf jeden Fall in ein Labyrinth: dunkle Flure zweigen im Dämmerlicht irgendwohin ab. Objekte von Jürgen Walter, der 2014 verstorbene Mann von Zehra Çırak, hängen an den Wänden, ragen vom Boden auf. Kritisch beäugen Vogelkopfnachbildungen den Besucher, zielen Miniaturflugobjekte auf ihn. Kein Zweifel, man ist hier an einem besonderen, ebenso feierlichen wie etwas unheimlichen Ort angekommen.

Zehra Çırak wurde 1960 in Istanbul geboren. Drei Jahre war Zehra Çırak alt, als sich die junge Familie nach dem Gastarbeiter-Anwerbeabkommen auf den Weg nach Deutschland machte. Die Familie fasste schnell Wurzeln in Karlsruhe. Die Türkei war für Zehra bald das Land, „in das man in den Urlaub fuhr“. Deutsch sprach sie bald besser als Türkisch. Den Wunsch der Eltern, später doch einmal wieder in die Heimat zu ziehen, war der heranwachsenden Frau bald fremd. Heimat bedeutete für sie Deutschland. Hier trifft sie schon im Alter von 18 Jahren den Mann ihres Lebens, den ziemlich unangepassten Bildenden Künstler Jürgen Walter, der einen Gegenentwurf zum eher traditionell orientierten Elternhaus bot. „Für mich war die Kunstszene etwas Neues, so etwas kannte ich von zuhause nicht. Jürgen interessierte sich sehr für meine Schreibversuche und hat mich motiviert“, rekapituliert sie jetzt und senkt den Blick. Der Verlust ihres Mannes, der so viel auf einmal war: Mann, Geliebter, Gefährte, Bruder im Geiste, bester Freund, Kollege, Mitstreiter, erster Lektor, trifft sie immer noch tief. Mehr als dreißig Jahre waren sie ein unzertrennliches Paar. Zehra Çırak und Jürgen Walter waren ein Beispiel für eine faszinierende Künstler-Lebens-Beziehung, bei der, anders als bei der Mehrzahl der sogenannten Künstlerpaare, der weibliche Part nicht nur als Muse oder Sekretärin fungiert, sondern gleichberechtigt ist.

1982 zog das noch junge Paar von Karlsruhe nach Berlin-Schöneberg, in die Wohnung, vielmehr: in ihr gemeinsames Wohn-Atelier-Archiv-Arbeits-und-Liebes-Zauberreich, in dem Zehra Çırak heute noch lebt und das sie nun als ihren „Berliner Lieblingsort“ auserkoren hat. Dieses Reich ist öffentlich begehbar. Der Kontakt ist unten angegeben. Dem Umzug nach Berlin folgt eine künstlerisch sehr produktive Zeit, für beide Seiten. Jürgen Walter und Zehra Çırak begannen, intensiv zusammen zu arbeiten. Sie veranstalteten Performances und Gedicht-Bild-Collagen, die sie schon beinahe überall auf der Welt vorgeführt und ausgestellt haben. Zehra Çıraks Gedichte oder Prosaminiaturen stehen mit seinen Objekten und Collagen auf die ein oder andere Weise in einem intensiven Dialog: Manchmal schreibt Jürgen Walter Textzeilen von ihr auf den Sockel seiner Objekte, manchmal macht sie „poetische Führungen“ durch Ausstellungen von ihm und liest vor den verschiedenen Objekten inhaltlich verwandte Kurztexte von sich. Nie sind diese Texte illustrativ, immer ergibt sich ein Mehrwert durch die Einführung der Ebene Sprache. Sowohl Jürgen Walters Objekte als auch Zehra Çıraks poetischen Miniaturen zielen auf das Utopische, Skurrile, Menschlich-Verrückte – sie sind in Wort und Bild manifestierter philosophischer Humor vom Feinsten. Zehra Çırak liebt das Knappe, die kurze Form, Paradoxes, Groteskes, überraschenden Tiefsinn, den Wortwitz. So amüsiert sie sich in „Sprachspiel für eine Dramaturgin und eine Türkin“ über Identitätsklischees: „Manchmal bin ich / meine eigene Dramatürkin“. Und aus „Stadt – Land – Fluss“ wird bei ihr, ein Wortspiel von eindringlicher Aktualität:  „Stadt – Land – Flucht“.

Humor war immer etwas, was  Zehra Çırak und Jürgen Walter miteinander verbunden hat. Da die Deutschen ja nicht als Humormeister bekannt sind, drängt sich mir die Frage auf: „Gibt’s aus Ihrer Sicht irgendeinen Unterschied zwischen türkischem und deutschem Humor?“ Die masochistisch erwartete Antwort bleibt aus. Zehra Çırak schüttelt entschlossen den Kopf: „Nein, würde ich nicht sagen.“ Dann, mit einem spitzbübischen Grinsen: „Es gibt bestimmt Türken, die sagen, die Türken haben einen ganz besonderen Humor, da kommen die Deutschen nie ran. Das sagen die Türken sowieso immer gerne, dass sie irgendwas ganz besonderes haben, was die anderen nicht haben.“

Überhaupt, die Türken. Dazu erzählt mir Zehra die Geschichte ihres ersten großen Literaturpreises: Für ihren ersten Gedichtband flugfänger (1988) erhielt sie ein Jahr später den Chamisso-Förderpreis. Diesen vergibt die Robert-Bosch-Stiftung „an herausragende, deutsch schreibende Autoren nicht deutscher Muttersprache“ wie es damals hieß (heute: „an eine herausragende, auf Deutsch schreibende Autoren, deren Werk vom Kulturwechsel geprägt ist“). Ihr Laudator, Joachim Sartorius, selber Dichter und zu dieser Zeit Leiter des Künstlerprogramms des Akademischen Austauschdienstes Deutschlands (DAAD), bemerkte jedoch, „wie gering der Anteil an ‚türkischen Themen’ an ihrem Gesamtwerk ist.“ Vergeblich würde man in ihren Gedichten und Prosaminiaturen nach türkischen Traditionen und Einflüssen suchen. Tatsächlich zählt Zehra Çırak den portugiesischen Nobelpreisträger José Sarramago sowie die deutsch-jüdische Dichterin Hilde Domin zu ihren Säulenheiligen. Wenn ihr, vertraut Zehra Çırak mir nun an, während sie einen leckeren türkischen Salat serviert, etwas auf den Wecker ginge, dann die ewigen Fragen der Journalisten nach ihrem „Migrationshintergrund“: „Das Leben in Deutschland, das Türkisch-Sein, darüber habe ich nie geschrieben, war überhaupt gar nicht mein Thema und wurde es auch später nicht, das wurde immer nur von außen an mich herangetragen“, sagt sie und seufzt. Überhaupt störe sie das Denken in nationalen Kategorien. Sie kontert in einem Gedicht mit der knappen Sentenz: „Das Salz kennt kein Nationalgericht“.

In ihrem Gedicht Doppelte Nationalitätsmoral beschreibt sie den Konflikt, den sie oft bei anderen beobachtet: „Die Socken / rot mit weißen Stern im Sichelmond / die Schuhe schwarz rot gold / für viele ist es / wie ein warmer Fuß im kalten Schuhwerk / für andere/ ein Doppelknoten in einem nur schnürsenkellangen Leben.“ Für sie gäbe es aber eben nicht nur diese beiden „Schuh-“Alternativen: Schon in dem frühen Prosatext Kulturidentität aus ihrem Band Vogel auf dem Rücken eines Elefanten hatte die Dichterin klar formuliert: „Ich bevorzuge weder meine türkische noch meine deutsche Kultur. Ich lebe und sehne mich nach einer Mischkultur (…). Am liebsten möchte ich indisch einschlafen als Vogel auf dem Rücken eines Elefanten und türkisch träumen vom Bosporus.“ Ergänzen möchte man noch, wenn man die Speisen auf dem Küchentisch betrachtet, die Zehra Çırak extra für unser Gespräch zubereitet hat: „und meine Zunge zuhause in Berlin immer wieder ins Land des Sichelmondes entführen“.

Heute wählt Zehra noch klarere Worte, gerade in Zeiten einer nationalen Rückbesinnung unter dem türkischen Präsidenten Erdogan: „Ich fühle mich nicht zur türkischen Bevölkerung zugehörig – gar nicht. Auch nicht zur türkischen Bevölkerung, die in Deutschland lebt. Ich fühle mich zu den Berlinern zugehörig und zu Deutschland. Und dann Europa. So.“ Zehra Çıraks Art, einen anzuschauen, kann etwas sehr Entschlossenes haben. Nach einer kurzen Pause, die aus intensivem Blickkontakt besteht, setzt sie fort: „Wenn ich an so etwas wie ‚Geschichtsverarbeitung meines Landes’ denke, dann eher an den Holocaust und nicht an Atatürk und die Osmanen. Viele Türkischstämmige denken, sie könnten das nicht, weil sie eben eine Verwurzelung in die Türkei haben. Aber ich behaupte, man kann sich auch in die Geschichte und in die Vergangenheit eines Landes, einer Nation ‚hineinintegrieren’, auch wenn man anders verwurzelt ist. Und ich habe keine andere Verwurzelung in der Türkei außer meiner Geburt. Ich sage: Die Türkei ist ein Land, das ich besser kenne als andere Länder, weil ich mit meinen Eltern dort oft zu Besuch war, Verwandte dort leben und die Sprache verstehe.“ Das Thema Nationalismus ist Zehra Çırak sehr wichtig, gerade weil sie als Schriftstellerin ständig mit der „Identitätsfrage“ konfrontiert wird. Sie fügt noch an: „Es gibt viele Türkischstämmige hier, so um die dreißig Jahre alt, die meine Kinder sein könnten. Die fühlen sich zum Teil der Türkei absolut zugehörig, dabei haben sie die Türkei vielleicht dreimal im Leben besucht!“ Sie wird wütend:  „Und tragen hier türkischen Mond mit Sternen und Turkiyem-Schriftzug und blablabla! Dieser Nationalismus ist mir fremd.“

Ihr Blick schweift einen Moment in die Ferne, dann kommt sie auf etwas Anderes zu sprechen: Was ihr am Herzen läge und wo ihr die Kenntnis des Türkischen von Nutzen sei, ist das Leiten von Schreibwerkstätten an Schulen. „80 Prozent meiner Schüler sind nichtdeutscher Herkunft“, erklärt mir Zehra Çırak, während sie zwei Kerzen anzündet und einen Tee aufsetzt. Dass sie schnell mal ins Türkische wechseln kann, macht ihr den Umgang mit den Jugendlichen, die „eher aus Problembezirken kommen“, leichter. Die Phantasie, die die Jugendlichen entwickeln können, wenn „es mal nicht um Noten geht“, sei beeindruckend. Gerade hat sie vier Monate lang eine Schreibwerkstatt mit zehn Schülern – allesamt Flüchtlingskinder – geleitet. Die Kinder hätten sich ihr geöffnet, erzählt sie. Die Lehrerin hätte gestaunt, was sie alles von den Kindern erfahren hätte und wie gut sie Deutsch gelernt hätten. Im „Berliner Ensemble“ haben die Kinder im vergangenen Herbst auf großer Bühne ihre Gedichte auf Deutsch vorgetragen.

Es ist schon ziemlich spät geworden. Wir widmen uns nun den türkischen Süßspeisen sowie einem kräftigen Tee. Aus einem Augenwinkel sehe ich, wie einer von Jürgen Walters Vogelköpfen uns wohlwollend über die Schultern schaut. Es ist sehr schön hier. Und auf eine heimelige Weise unheimlich.

 

AUTORIN

Tanja Dückers geboren 1968 in Berlin (West), ist Schriftstellerin und Publizistin. Zu ihren Werken zählen die Romane Himmelskörper, Der Längste Tag des Jahres, Spielzone, Hausers Zimmer, der Essayband Morgen nach Utopia sowie mehrere Lyrikbände und Kinderbücher. Sie schreibt regelmäßig über gesellschaftspolitische Themen für die ZEIT Online und das DeutschlandRadio und lebt mit ihrer Familie in Berlin.

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März 2016