Sabine Hagemann-Ünlüsoy (2013)
Das imaginäre Museum
Die meisten Kunstobjekte von Jürgen Walter, von ihm kurz die „Objekte“
genannt, finden sich in seiner Webgalerie abgebildet, gegliedert in
Serien. Eingefügt in dieses Inhaltsverzeichnis der Galerie ist die intensive
Zusammenarbeit mit seiner Frau Zehra Cirak, der bekannten Lyrikerin, die seit
dem Beginn der langen Zusammenarbeit im Jahre 1982, zahlreiche Texte zu
den Objekten verfasst hat.
Die Bedeutung dieser mehr als 30 Jahre andauernden Partnerschaft wird
in der Web-Autobiografie von Jürgen Walter deutlich.
Die Serien, 13 an der Zahl in der Webgalerie, und eine neu begonnene Serie
„Wasser“, sind wie Kapitel in einem umfassenden Lebensroman: Jede
steht für sich und enthält doch viele Querverbindungen, die dazu
einladen, hin und her zu wandern. Manche Zusammenhänge deuten sich
bereits in den Überschriften an: Kontrapunktisch bei „Erdenweg“ und
„Höhenflug“, sich ergänzend bei „Kleine Altäre“ – hier ist „für die
Kunst“ zu ergänzen – und „9×3 Stühle zu Ehren der Wissenschaft“.
Titel spielen eine wichtige Rolle in Jürgen Walters Werk: Sie geben
eine Perspektive, oft auch eine Erklärung zu den jeweiligen Objekten.
Als Serientitel stellen sie Zusammenhänge her und benennen Aufgaben,
die der Künstler sich gestellt hat. Insofern muss man Jürgen Walters
Kunst als Auftragskunst verstehen, hervorgegangen aus einer
Selbstbeauftragung. In Erfüllung dieses Auftrags sammelt seine Kunst,
Ideen, Beobachtungen und Materialien und führt sie zusammen, sie
kollagiert Gefundenes, bearbeitet und verändert es, und überrascht sich
selbst im Arbeitsprozess. Damit unterscheidet sie sich von der
Konzeptkunst, bei der Ideen den Vorrang haben.
Jürgen Walters imaginäres Museum stellt tendenziell alles aus, was das
Umfeld des Menschen und ihn selbst ausmachen: Kulturgüter des
Bildungsbürgertums wie den „Flügel“ in „Anklänge“, Alltagsgüter wie
Kameras, Schuhe oder Schreibmaschinen in „Erdenweg“, „Bild der
Wirklichkeit“ und „Hilfsmittel“, geschichtliche Errungenschaften wie
die Vielfalt künstlerischer Produktionen oder den Fortschritt der
Wissenschaft. Sie arbeitet mit antiken Mythen (Prometheus, Narziss,
Europa und der Stier) und zeitgenössischen Symbolfiguren wie dem Punk,
dem Bodyguard oder dem Headhunter. Respektlos erscheint in diesen
Kunstobjekten der Überbau als Überbau und der menschliche Wahn als
zeitlos, wenn in „Narzissenglut“ der moderne Supermann sich selbst im
Spiegel bewundert. Er trägt die Gesichtszüge von Jürgen Walter. Nichts
und niemand ist vor dieser Kunst sicher, auch sich selbst schont der
Künstler nicht, gibt sich preis auf der Suche nach der Wahrheit
in der Wirklichkeit: Insbesondere in der Serie „Ich und Ich“ wird
das, was wir gern das Allzumenschliche nennen, am eigenen Beispiel
angeprangert: „Das Tier, das ich nicht sein will“, der „Fetischist“,
„Ich betrüge mich“ sind Beispiele, wo Kunst der Entlarvung dient. Aber
dieses Bild bleibt nicht unwidersprochen, es wird ironisch relativiert,
wenn auf „Ich betrüge mich“ ein „Ich auch“ folgt oder ein Jürgen Walter
in der Badewanne erklärt „Ich habe nur saubere Gedanken“. In dieser
Sprechblase erscheint in nuce ein ganzes nationales Erziehungssystem.
So tritt neben den Einzelnen das gesellschaftliche System, nicht zur
Entlastung, denn daran ist er, der Einzelne, nicht unschuldig, sondern
als Erklärung. Der kleine und der große Bischof, als „Gebissköpfe“
gestaltet, sind nicht nur Täter, sondern auch Opfer ihrer Institution.
Die Macht der Institution ist immer auch die Macht von Menschen über
Menschen, zumeist in einer hierarchischen Anordnung. Die Verpflichtung,
die die Menschen dabei eingehen, bringt ihnen keinen Segen – sie machen
sich selbst zum Objekt („Grenzwächter“), sie reduzieren sich bis hin
zum Fanatismus („Marienverehrung“), sind dabei zuweilen schön in ihrer
Eindeutigkeit („Indexsetzer“), tragen als Amputierte ihren eigenen
Stuhl am Körper („Own chair“) oder zeigen sich als gehenkte Soldaten
in schöner Symmetrie („Walnutgrove“), ihr Körper ist mit dem Grabstein
verwachsen, der Friedhof der Ort der Erholung („Und kommt in Fetzen
an“). Doch andererseits sind oben und unten so verschieden nicht, sie sind
eher „Groß und Klein“, „Oben Blech und unten Blech“, essentiell gleich.
Die Dialektik von Täter und Opfer, Oben und Unten, ist unauflösbar und
erweist sich als die jeweils andere Seite der Medaille.
Politisch ist die Kunst von Jürgen Walter, sie ist komisch, sie ist
ironisch, manchmal verspielt („Erdenweg“), sie ist erotisch, zuweilen
pornographisch, zumeist provokativ. Aber sie kennt auch den Respekt:
Unpathetisch in den „Kleinen Altären“ für die Kunst, voller Pathos in
den „Stühlen für die Wissenschaft“. Das imaginäre Museum des Jürgen
Walter stellt hier 27 Künstler vor, das ganze Alphabet von A bis Z, und
damit es 27 werden, erscheint das B gleich 2x.
27 Ehrenstühle dienen den Wissenschaften. Die Hommage gilt dem Werk
und über dieses auch dem Menschen, der dahintersteht. Es sind die
Nicht-Narzisse, die hier gefeiert werden: In poetischen und zuweilen skurrilen
Kunstobjekten, gestaltet in den unterschiedlichen Handschriften zu Ehren jener
Künstler, deren Werk sie sind, 27 kleine Altäre, zur Sprache gebracht
von Zehra Cirak, die ihnen jeweils einen Text gewidmet hat und diesen
selber spricht: Der Lautsprecher als integraler Bestandteil eines
jeden Altars. Die Wissenschaftsstühle sind noch komplexer aufgebaut:
Jeder von ihnen stellt wie in einem großen Bilderbuch die Formen und
Formeln des jeweiligen Wissensgebietes dar, gegebenenfalls in
poetischer, surrealer, verfremdeter oder realistischer Form, begleitet
von 2 Texten, die gesprochen werden: Ein fachlicher Infotext, verfasst
von Jürgen Walter, gefolgt von einem literarischen Text, geschrieben
und gesprochen von Zehra Cirak: Ein ehrwürdiger Kreis von
Wissenschaftsstühlen, ein Denkmal, Teil des imaginären Museums, das zum
Aufbewahrungsort wird für dieses Vermächtnis, gewürdigt in Kunst und
Poesie.
„Ich folge keiner Zahlenmystik“, erklärt Jürgen Walter, ihm gehe es
darum, eine große, tendentiell auf Vollständigkeit zielende Entität zu
schaffen. Nun, dennoch ist es nicht uninteressant, zu wissen, woran das
alte Babylon glaubte: Jeden 27. Tag treffen sich Mond und Sonne, um
ihre Bestimmung zu teilen.