von Beatrix Langner
1988 wurde Zehra Çirak mit dem Chamisso-Förderpreis «für deutschsprachige Schriftsteller ausländischer Herkunft» ausgezeichnet. Es hat lange gedauert, bis sich diese komplizierte Bezeichnung für eine neue Generation junger deutscher Autoren eingebürgert hat. Mit dem Objektkünstler Jürgen Walter verbindet die Autorin eine Künstlerehe, in deren Mittelpunkt die Verständigung zwischen Menschen und Dingen steht.
Die Wohnungstür öffnet sich auf einen langen, schmalen Gang. Von rechts fällt Licht aus dem Hinterhof auf eine endlose Reihe schwarzer Kästen mit Reliefs. Darunter, etwa in Bauchnabelhöhe, sind Schuhe aufgeblockt, steilhackige, zerbeulte, grotesk verbogene, fünfzehige Schuhe, Individualisten ohne ihr paariges Gegenstück. Irritiert windet sich die Besucherin an ihnen vorbei in das Arbeitszimmer der Dichterin am Ende des Korridors. Zehra Çirak lächelt, ihr schönes offenes Gesicht wirkt etwas müde. «Jürgen, kommst du mal.» Ein freundlicher älterer Mann drückt mir kräftig die Hand.
Seit neunzehn Jahren sind Zehra Çirak und der Objektkünstler Jürgen Walter ein Paar, seit einem halben Jahr verheiratet. «Natürlich passiert da was im Kopf, gegenseitig, man lebt ja nicht nebeneinander her.» Zehra läuft Jürgen Walters «Erdenweg», die Serie der Schuh-Objekte aus den achtziger Jahren, zurück in die Küche, um Kaffee zu kochen. Ihr Arbeitszimmer, das kleinste Zimmer der Wohnung mit Blick auf Dächer, ist kühl möbliert, neben dem Stuhl der Besucherin eine schwarze Stele mit einer Art Menschenkopf darauf. Wie schreibt es sich mitten im Werk des anderen?
Die Erzählkraft der Alltagssprache
«Ehrlich gesagt ist es so, dass, wenn die gemeinsame Arbeit nicht wäre, auch die Beziehung sich anders entwickelt hätte, da ist z. B. der Altersunterschied.» Sie wurde 1960 in Istanbul, er 1940 in Karlsruhe geboren. «Mein Vater war Musiker und hat seine Musikerkarriere in der Türkei aufgegeben, um ein Jahr nach Deutschland zu kommen und ganz reich zu werden und seine Familie zu ernähren. Daraus sind dann fast vierzig Jahre geworden, von 1962 bis heute.» Bei ihr zu Hause, und das hiess bis 1982 Karlsruhe-Wörth, waren drei Geschwister, Mutter, Vater, eine Tante. In den Tagebuchheftchen des jungen Mädchens stehen Herzschmerzgedichte.
«Für den türkischen Kulturkreis war das nichts Besonderes, man singt Lieder, man spielt Musik, oder man schreibt Gedichte, Frauen wie Männer. Viele Männer fangen an, Gedichte zu schreiben, wenn sie zum Militär müssen.» Mit siebzehn beginnt Zehra eine Lehre als Kosmetikerin. «Ich hab nur deutsch geschrieben, das Tagebuch sowieso, damit meine Eltern das nicht lesen konnten. Und mein Glück war eben, dass ich Menschen begegnet bin, als Erstes Jürgen Walter, er war dann die erste Person, die meinte, ja mach das doch ernsthaft weiter. Hab ich dann gemacht.»
1987 erschien Zehra Çiraks erster Gedichtband, «Flugfänger», 1991 folgte «Vogel auf dem Rücken eines Elefanten» und drei Jahre später «Fremde Flügel auf eigener Schulter». Mit kräftigen Strichen entwirft sie kleine Geschichten, ungewöhnliche Wortbilder, spannungsreich aufgeladen mit der Erzählkraft der Alltagssprache, von der sie umgeben ist, die sie befragt, betastet, energisch umdreht. «Meine Texte haben Körperlichkeit, der Mensch ist ja was zum Anfassen, ich versuche etwas zu durchschauen, den Menschen anzufassen, nicht mit den Händen, sondern auch mit Blicken, das ist mir lieber als die grosse Ignoranz, die umgeht zwischen Freunden und zwischen Familien, Arbeitskollegen, in der Politik.»
Mitte der sechziger Jahre – Bruce Nauman führt menschliche Körper- und Raumerfahrung zusammen, Joseph Beuys und Wolf Vostell rufen zum Aufstand gegen die technische Welt auf, der Höhepunkt der Objektkunst ist erreicht – bricht Jürgen Walter sein Kunststudium in Karlsruhe ab. Sein erster Zyklus variiert Klaviere, ist eine Auseinandersetzung mit der Identität des Nicht-Identischen, dem Sinnspiel zwischen Form und Funktion. Unter den jungen Künstlern ist er der grübelnde Dichter. Die Dingform als verräumlichte Denkform bleibt sein Grundthema. Die Dinge erscheinen nicht, wie bei den Surrealisten und frühen Konstruktivisten, als Auslöser des Irrealen, Unbewussten, sie werden nicht psychologisiert, sondern als Auswüchse und komische Deformationen des Menschen sichtbar.
Wie Tatlin, der seine Ergänzung in seinem Dichterfreund Chlebnikow suchte, arbeitet Jürgen Walter streng handwerklich mit seinem Material: Kunststoff, Holz, Draht. Zu vielen Objekten gibt es Gedichte von Zehra. «Das Wort ist die Form, das Gedicht ist fertig, es muss nur noch gefüllt werden.»
1990 bis 1993 entsteht die Serie «Höhenflug», deren Motive in der Gedichtsammlung «Fremde Flügel auf eigener Schulter» wiederkehren. «Oft war das Gedicht zuerst da, und er machte dann eine Plastik dazu, oder ich hinkte dann mal wieder eine Zeitlang hinterher, weil ich anderes zu tun hatte. Und dann waren die Plastiken da, und ich schrieb dann zehn, zwölf Gedichte, oder es passierte auch wirklich gleichzeitig.» Gemeinsam haben Zehra Çirak und Jürgen Walter nur einmal gearbeitet, an einem Zyklus aus Gedichten und Objekten mit dem Titel «Ich und Ich – Reflexionen über die Selbstbefangenheit».
Ihr jüngster Gedichtband heisst «Leibesübungen», wie die anderen bei dem Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Die Gedichte bewegen sich in einem Beziehungsnetz, das die Person und das Ich in einen gemeinsamen Sinnraum mit dem Nicht-Ich, dem Anderen stellt. «In meinen Texten geht es immer um Menschen, selten um Dinge. Selbst wenn ich die Dinge beschreibe, stelle ich mir vor, sie seien Menschen.» Die Sehnsucht nach dem Anderen als «Sucht-Meldung», die fragwürdigen Zuschreibungen des Mich/Mein und die Schwierigkeiten, sich zu verändern und sich gleich zu bleiben, beschreiben diese Gedichte und benennen den chronischen «Wiedererkennungsdefekt» der Sprache, die aus dem Wanderer den «Einwanderer» und aus diesem den Ausgegrenzten, Fremden, den «Ein-w-anderer» macht. Schreiben als permanenter Versuch, durch Sich-Verwandeln in den Mitmenschen, den Nächsten das Fremde zum Eigensten zu machen.
Die Grossstadt Berlin mit ihren türkischen Diaspora-Vierteln, den Zeitnarben zwischen Ost und West, den sozialen Gegensätzen ist Zehras Thema im weitesten Sinn. «Meine lebendige Jetzt-Heimat ist natürlich Berlin, und meine Kindheitssehnsuchtsvorstellungsheimat, in der ich auch geboren bin, ist die Türkei. Also bei mir ist das nicht so, dass die eine Heimat die andere ersetzt, ich zähle das eher zusammen, so wie eins und eins zwei sind. Wir waren ja auch durch die gemeinsamen Ausstellungen und Performances in New York, in Kanada, in Tunis, in Städten in Deutschland, wo man sagte, hier ist es schön, hier könnte man leben, aber meist waren es grössere Städte.»
Zwiespalt der Identität
1988 wurde Zehra Çirak mit dem Chamisso-Förderpreis für deutschsprachige Schriftsteller ausländische Herkunft ausgezeichnet. Es hat lange gedauert, bis sich diese komplizierte Bezeichnung für eine neue Generation junger deutscher Autoren eingebürgert hat, deren Romane, Gedichte und Erzählungen heute noch keineswegs selbstverständlich zum Gesamtbild der deutschsprachigen Literatur gezählt werden. «Ich hab mich dagegen gewehrt, als türkische Autorin der zweiten Generation verkauft zu werden, und das war so das erste Mal, dass ich empfunden habe, dass ich Ausländerin bin. Sonst hatte ich damit nie irgendwelche Probleme, auch in meiner Kindheit nicht».
Mit dem wachsenden Fremdenhass, mit jedem neonazistischen Gewaltopfer wächst das Interesse der deutschen Öffentlichkeit an den «ausländischen Mitbürgern» und ebbt ebenso schnell wieder ab. Sie habe bald gemerkt, sagt Zehra Çirak, dass es nicht mehr um ihre literarische Arbeit gehe, sondern um ihre nichtdeutsche Herkunft. «Man landet dann in der Zeitung nicht im Feuilleton, sondern in der Rubrik Multikulti.» Und so ist ihr der Zwiespalt vertraut, ihre Identität zwischen der Dichterin und der Türkin teilen zu müssen, auch wenn das Türkische an ihr gut ist für Fördergelder und Auflagenhöhe ihrer Bücher.
Wir gehen noch einmal zurück in Walters Werkstatt. Schwarze menschengrosse Stelen mit Köpfen drauf, die anstelle des Mundes Lautsprechermembranen haben, stehen in einer Gruppe am Fenster zusammen, als hätten wir sie bei einem Gespräch überrascht. Aus den Lautsprechern werden später, so wird der Besucherin erklärt, Klangcollagen und Zehras Gedichte kommen. Walters Serie heisst «Balken, Stab und Brettfiguren», «und jedes Objekt hat seine individuelle Stimme». Eine der Menschenkisten heisst «Marienverehrung». Kunst als Frauendienst, Leben im Wortraum der Dinge. Die Besucherin wandelt den «Erdenweg» zur Wohnungstür, wie sie gekommen ist, und verschwindet wieder in den Lärmwindungen der Grossstadt. Ein erstaunliches Paar, denkt sie noch, wie friedlich wohnt einer im Werk des andern.