Kunst und Konjunktur

von Klaus Beasler

Jürgen Walters Kunst ist eine politische Kunst, die derzeit jedoch keine Konjunktur hat, wie auch die Verbindung von Moral und Politik derzeit keine Konjunktur hat. Seine Motivfindung kommt aus der Einsicht, wie es um unsere Zeit bestellt ist. Einer Zeit, die durch einen extremen Mangel an Konsens in unserer Gesellschaft charakterisiert wird.
Er ist ein Künstler, der sich als ‚engagiert‘ versteht und sich für die Grenze dessen, was ernstgenommen wird oder als bloßes Spiel mit Formen gilt, interessiert. So stellt sich die Frage nach seinem Menschenbild mehr als die nach seinem künstierischen Standort.
Seine Weltsicht ist von einem tiefen Mißtrauen gegen alle Errungenschaften der technischen Zivilisation geprägt. Seine Menschen sind in der Gewalt der Maschine und nicht Beherrscher der Technik.
Er beteiligt sich nicht, das betont er im Gespräch auch gerne, an der Originalitätssucht der Avantgarde, die den Mythos der Innovation als eigenständigen Wert zelebriert und in unserer Zeit des ausgehenden Jahrtausends zu einer immer schnelleren und verwirrenderen Aufeinanderfolge der Stile und Moden führt. Er sieht sich selbst außerhalb des Kunstbetriebes und damit auch des Kunstmarktes. Er arbeitet realistisch mit bewundernswerter handwerklicher Präzision – auch das keine derzeit hoch gehandelte Tugend. Aber glücklicherweise erliegt er nicht der Gefahr der oft bequemen Rezeptionsmöglichkeit gegenständlicher Kunst.
Ihn interessiert die Technik des Machens so wenig wie die Ästhetik des Materials, das ihm nur Mittel zum Zweck ist, etwas auszudrücken. So wie ihn auch die verwickelte Geschichte der Moderne und die Fortentwicklung der Kunst wenig interessiert. Er benutzt mit Holz, Draht und Spachtelmasse leicht verfügbare Materialien, mit denen er alles machen kann.
Für Jürgen Walters Arbeitsverständnis gilt Edward Hoppers Bekenntnis:
„Für mich sind Form, Farbe und Linie … nichts als Arbeitsmittel, sie interessieren mich als solche nicht sehr. Mich interessiert der innere Bereich menschlicher Erfahrungen und Gefühle.“

Seine Kunst beruht auf Rationalität. Nicht die Gegenstände, nicht die Form, nur die Wirkung interessiert ihn. Und er vertritt seine gesellschaftspolitischen Ansichten mit nachdrücklichem Engagement, nicht nur in seiner Kunst. Er stellt in erster Linie Menschen dar, und alle Dinge, die er darstellt sind in Beziehung zum Menschen gesehen. Dabei geht der Blick von außen nach innen.
Seine im Gespräch gerne provokativ geäußerten, keinen Widerspruch duldende These, daß Kunst nichts, rein gar nichts bewirke, scheint er, durch die staunenswerte Beharrlichkeit, mit der er über die Jahre seine Themen untersucht, selbst zu mißtrauen.

Bei aller Vereinzelung abseits vom Mainstream des Kunstbetriebes arbeitet auch Jürgen Walter nicht im luftleeren Raum, und das Aufspüren von Parallelen und Geistesverwandtschaften muß erlaubt sein, kann man doch aus Orientierungsgründen auf Schubladenbeispiele nicht ganz verzichten.
Dabei fällt einem natürlich zuerst Georg Grosz‘ böser Strich aus seiner Berliner Zeit ein. Dieser moralistische Prediger und Agitator, der bitterböse, oft zynische, aber immer sezierend exakte Entlarver gesellschaftlicher, kollektivsanktionierter Dummheit und Borniertheit, wollte nicht metaphysich genossen‘ werden. Er suchte Wirkung in der politischen Arena und alle Innerlichkeit war ihm suspekt. Sie erschien ihm als Flucht vor der Realität.
Aber anders als Grosz , der als gnadenloser Analytiker seiner Zeit Gesellschaftsstrukturen aufdeckte, die in den von ihm gesehenen Totalitarismus führen mußten, will Jürgen Walter über die aktuelle Bezogenheit hinaus die immerwährende menschliche Begrenztheit entlarven.
Seine geistigen Wurzeln liegen in der Politisierung der Künstler in den 60er Jahren, in denen künstlerisches Handeln als öffentliches Handeln verstanden wurde. Er machte den folgenden Rückzug der 70er Jahre in die Innerlichkeit nicht mit. Er ist ein Fossil (soweit man in der Zeit eines Menschenlebens zum Fossil werden kann) aus der Zeit kritischer Kunst und er bewahrte seine Kritikfähigkeit auch in der „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermaß) der 80er Jahre mit ihrem Verlust des Glaubens an die großen Gesellschaftsentwürfe.
Die Misere der Kunst hängt mit dem Zustand der Gesellschaft zusammen.
Gesellschaftskritik ist schal geworden. Was immer man gegen die bestehenden Verhältnisse vorbringt, irgendeine Marketingabteilung, Werbeagentur oder Medienredaktion aus der Kulturindustrie erkennt den Marktwert auch des Widerstandes, der als gefällige Bestätigung von Demokratie und Überfluß ein nachhaltig gutes Gewissen erzeugt. „Wie unaufdringliche Kaufhausmusik begleitet das Rauschen des kritischen Bewußtseins alle Vollzüge des Lebens“.
Vom biblischen ‚Mach dir die Erde Untertan‘ bis zur cartesianischen Überlegenheit des rationalen Denkens, ‚Ich denke, also bin ich‘, über die geringgeschätzte res extensa, die Welt des Dinglichen, ist unsere abendländische Kultur durchdrungen von der Dominanz des Verstandes, von der Spaltung von Geist und Körper.
Die Welt als perfekte Maschine, als mechanisches System, das exakten mathematischen Gesetzen folgt, reduzierbar auf fundamentale Bausteine der Materie, hat unser Bild der Natur geprägt, die dadurch manipulierbar und ausbeutbar wurde. Der so überlegende menschliche Geist ist aber nicht mehr in der Lage, die Geister, die er rief, zu bändigen. Er kann technische Wunderwerke als Raumschiffe auf entfernten Planeten exakt vorausberechenbar landen lassen, ist jedoch nicht in der Lage, die sozialen Strukturen des Zusammenlebens auf dieser Erde zu regeln, Ausbeutung, Unterdrückung und Verarmung dauerhaft in den Griff zu bekommen.
Die evolutionäre Erkenntnistheorie argwöhnt, ob der Mensch aufgrund der stammesgeschichtlich gewachsenen notwendigen Begrenztheit seines Intellekts Oberhaupt in der Lage sein kann, die Komplexität der von ihm initiierten Szenarien noch zu beherrschen, um ihnen eine andere Richtung zu geben. Sie teilt nicht den Optimismus der technologiegläubigen Öffentlichkeit, die Menschheit werde ihre Probleme demnächst in den Griff bekommen. Vielleicht ist der Mensch, wie Hoimar v. Ditfurth mutmaßte, das erste Wesen in der Evolution des Lebens, in der bisher über 90% aller Lebewesen infolge veränderter Umweltbedingungen aussterben, das seinen Untergang selbst in die Wege geleitet hat.
Unser Wohlstand brachte uns an den Rand des ökologischen Kollaps. Unsere Bemühungpn um die Rettung unserer direkten Umwelt haben oft nur die Verlagerung der Probleme in die ärmere Welt zur Folge.
Wir praktizieren zuhause immer schärfere Umwelt- und Naturschutzgesetze und verursachen weltweit die immer rücksichtslosere Ausbeutung der noch vorhandenen Ressourcen und die Zerstörung der letzten noch intakten Lebensräume.
Jürgen Walters Thema ist dieses Doppelbödige all dessen was wir tun. Es sind die zwei Gesichter des Janus, die den zivilisatorischen ‚Errungenschaften‘ eigen sind. Dabei ist der gute Wille oft mit dem Vergeblichen behaftet.
‚Was tust Du?‘ lautet der Titel eines seiner früheren Multiples, einer Uhr, die statt der Ziffern diese Frage zeigt; er könnte als Titel fast aller Arbeiten taugen. Es ist eine Frage in einer Zeit ohne Eigenschaften an uns Opfer einer immer gnadenloseren Konsum-Maschinerie mit ihrer Wirklichkeit aus zweiter Hand. Wir werden unfähig, an den uns überrollenden Ereignissen aktiv teilzunehmen und verlieren unsere Kritikfähigkeit.
Die Kunst ist Jürgen Walter ein Anliegen mit einer im game-boy-Zeitalter unmodern gevvordenen Leidenschaftlichkeit. Seine begriffliche Welt ist eindeutig. Es ist die Wertstruktur der dialektischen Gegensätze der hegelianischen Welt.
Seine Aussagen sind direkt und unmittelbar, ohne Umschreibung und Vieldeutigkeit. Die Stärke der Unmittelbarkeit, der herausgeschrienen Wahrheit ohne zweiflerisches Sowohl-alsauch bekräftigt die Authentizität des Moralischen.
Marcel Duchamps Erkenntnis „der Betrachter ist genauso wichtig wie der Künstler beim Phänomen Kunst“ bekommt eine unmittelbare Linearität: Jürgen Walters Kunst ist ohne erkennenden Betrachter empfängerlos.
Dabei läßt er, wie er selbst glaubt, dem Betrachter wenig Interpretationsspielraum. Er weiß, und sieht sich hierin einig mit Ad Reinhard: „Das Eine, was man sagt, muß immer und immer wieder gesagt werden, und es ist das Einzige, was ein Künstler zu sagen hat“. Er weiß, was er sagen will: unsere Welt voller Ungewißheit und Anmaßung rast immer schneller der Selbstzerstörung zu. Unsere Welt ist die Welt des zunehmenden Chaos.
So haben seine Figuren nichts befreiendes, erlösendes. Wir sollen uns im Wiedererkennen bekennen, auch schuldig zu sein.