Jürgen Walter

Als ich Jürgen Walter zum letzten Mal sah, zeigte er mir zwei Werke, an denen er derzeit arbeitete. Es beflügelte ihn sehr, wieder arbeiten zu können. Sein Krankenbett befand sich mittig in seinem Atelier in der großen, mit Werken von ihm und Sammelobjekten aller Art vollgestellten Wohnung in Berlin-Schöneberg, der ihm liebste Ort auf Erden. Mehr als drei Jahrzehnte lebte er hier mit seiner Frau zusammen. Zehra Cirak, die bekannte Berliner Schriftstellerin und Adelbert-von-Chamisso-Preisträgerin (2001) war Jürgen Walters Frau. Als Kind kam sie aus der Türkei nach Deutschland, Karlsruhe. Da lernten die beiden sich später kennen. Sie kannten sich 33 Jahre lang. 

Jürgen Walter schien mir etwas mager geworden zu sein, aber von seinem Geist her wirkte er genauso barock und verspielt wie eh und je zu sein. Man sagt über viele Menschen, dass sie sich kurz vor ihrem Tod in sich zurückziehen, aber Jürgen Walter sprühte vor geistiger Energie, stellte noch eine gute Woche vor seinem Tod interessiert Fragen zu Aspekten der internationalen Politik, zitierte amüsiert die Tagespresse und machte Scherze, begleitet von seinem koboldhaften meckernden Lachen. Vor allem aber plante er weitere Werkserien. Vor seinem Bett standen zwei wunderbare Arbeiten, die dennoch schon ein wenig auf seine letzte Reise hinzudeuten schienen: „Auf der Suche nach dem künstlichen Horizont“ heißt in dunklem Blau gehaltenes Gemälde, ein anderes Werk „Was Tust du“. Etwas Wehmut schwang in Jürgens Äußerungen über seine neue „Wasser-“-Serie mit dem schönen nur auf den ersten Blick schlichten Titel „Auf und zu“ mit, als spüre er, dass die Serie unvollendet bleiben würde. Über viele Jahrzehnte hat er ein sehr eigenwilliges dichtes, opakes, stilles Werk geschaffen, eine künstlerische Handschrift entwickelt, die jedes Objekt unverkennbar zu einem „Walter“ macht.

Was genau macht das Werk von Jürgen Walter so besonders?

Jürgen Walter schafft wundersame Objekte, in denen Unvereinbares, Absurdes, Schmerzhaftes, Illusorisches, Verrücktes und Beinahe Gleiches egalitär nebeneinandergesetzt wird. Er spielt mit der Wirklichkeit, die bei ihm anderen physikalischen Gesetzen zu gehorchen scheint, er präsentiert dem Betrachter realistische Einzelobjekte, die jedoch – wie die klassische Meerjungfrau – anders enden als sie begonnen haben, sich verwandeln ohne deutlich zu machen, wer oder was sie eigentlich sind oder werden wollen. Hier wird vor allem ein Wandel festgehalten, der jedoch keinem äußerlichen Wandel – aus Wasser werde Wein – entspricht, hier wird eher eine seelische Transformation festgehalten, Traum- oder Alptraumfiguren, mit Armen und Beinen, Wasserhähnen oder Pistolen an Körperstellen, wo man sie nicht vermuten würde, Biomorphes und Technisches fließt ineinander, es werden Sinnzusammenhänge behauptet, die gar nicht existieren – zumindest nicht in unserem Tagesbewusstsein. Über all dem schwebt etwas Unheimliches, das Gefühl, auf einem Trip zu sein, einen eben begonnenen Gedanken nicht auf die Weise zu Ende denken zu können, die einem vorgeschwebt hat. 

Jürgen Walter verlässt sich hierbei nicht auf Taschenspielertricks, provoziert keine spektakulären Schocks – anders als andere Objektkünstler zielt er nicht auf Überrumplung seines Gegenübers, sondern auf Verführung – durchaus mit schlechten Absichten: zum Beispiel mit der, dem Betrachter einen Teil seines Inneren umzukrempeln, nach außen zu kehren, einen Teil, den dieser vielleicht nicht so gern materialisiert auf einer Leinwand oder einem Sockel – in Augenhöhe – gesehen hätte. Doch geht Walter hierbei sehr subtil vor, sein Werk verwirrt und verändert vielmehr als dass es attackiert. Der verführerische Charakter wird durch die „schön“ aussehenden Objekte, mit glatten Oberflächen und oft in angenehmen Farben gehalten, unterstrichen. Es sei noch angemerkt, dass diese Objekte handwerklich auf sehr hohem Niveau hergestellt werden – der Künstler baut in den meisten Fällen (außer bei seiner kleinen Elementen oder wenn er objets trouvés einsetzt) eine Rohfigur, ein Skelett aus Holz, ummantelt es mit Gitterdraht (außer bei sehr kleinen Objekten) und trägt dann Glasfaser- und Hartfaserpaste darauf. Anschließend wird die Oberfläche dieser Objekte geschliffen und bemalt. Teilweise handelt es sich hierbei um Skulpturen, oft aber um Gemälde, aus denen einzelne dreidimensionale Objekte herausragen, in die Bildoberfläche integriert sind.

Die „schönen“ Werke Walters schmeicheln dem Auge – bis es weh tut, bis aus der schönen Kamera – so das Werk „Mit den Augen eines Anderen“ – eine Pistole geworden ist. Aus dem Kontrast zwischen farblicher und taktiler Harmonie (glatte, glänzende Oberflächen) auf der einen Seite und entstelltem Sinn auf der anderen entsteht ein ganz spezifischer (ästhetisch-)visueller Schmerz. Ein schwer benennbares Unbehagen, das unter die Haut geht.

 Oft geht Jürgen Walter zunächst vom Klar Verständlichen aus – gern auch mit wissenschaftlichen, kulturhistorischen oder mythologischen Rekursen (antike Themen). Nicht ohne Ironie baute er zum Beispiel Brancusis berühmten „Flug“ in Miniaturformat in eines seiner Werke aus der Serie „Falsche Vögel“ ein. Mit diesen Rekursen schafft er einen kommunikativen Einstieg für den Betrachter, nimmt ihn gnädig an die Hand – um ihn dann sogleich sich selbst zu überlassen. Die zunächst allgemein erscheinenden Themen, die Jürgen Walter für seine Objektserien verwendet wie „Höhenflug“, „Ich und ich“, „Falsche Vögel“, „Symmetrie“ etc. vermitteln einigermaßen Vertrautes, um jäh ins Unvorhersehbare abzustürzen. Wenn man etwas über Jürgen Walter statuieren kann, dann, dass das zu Erwartende bei ihm nie eintritt. 

Nicht selten tauchen bei Jürgen Walter abgetrennte Gliedmaßen, Torsi, Masken, Arme, Füße auf, werden mit derselben Akkuratesse in eine Assemblage, in ein Relief eingebaut wie eine Pistole oder ein Glas. Der Körper wird nie intakt, sondern immer nur noch in atomisierten Einzelteilen, reduziert auf die wesentliche Funktion für das jeweilige Werk, eingesetzt. Körperteile sind bei ihm Objekte wie ein Schuh, ein Tisch oder ein Boot. Der Künstler überlässt nichts sich selbst oder dem Zufall, sondern wirkt sehr stark gestaltend, sezierend, ordnend, gerade in dem er Unvereinbares, Widersprüchliches in eine oft schmerzhaft erscheinende Synthese – eine höhere Ordnung, eine Waltersche Welt mit anderen physikalischen Gesetzen – zwingt. Dabei ist der Künstler omni- und null-präsent: Er zieht die Fäden nach den Regeln einer anderen Schwerkraft und einer anderen Zug- und Fliehkraft als wir es gewohnt sind, aber gleichzeitig ist er in seinen Werken auch abwesend, er wirkt in ihnen fern wie ein hohes kafkaeskes Gesetz. Manchmal taucht Jürgen Walter auch überraschend selbst auf: er benutzt sich – beispielsweise sein Gesicht – als Objekt, als Beispiel, als „Herrn Mustermann“. Aber er wird nicht im engeren Sinn persönlich. Dazu passt auch Jürgen Walters höchst knapp gehaltene Biographie aus seiner Website http://www.juergen-walter.com/Geboren 1940 in Frankfurt /a.M. Aufgewachsen in Karlsruhe. Lebt seit 1982 in Berlin.

Länger fällt die alphabetische Aufzählung der vielen Orte aus, an denen Jürgen Walter ausgestellt hat, von Aschaffenburg über Klaipeda oder Prag bis nach Wien und Wilhemshaven. Die Übersicht über sein Werk ist hingegen detailliert, mit Farbabbildungen fast aller seiner Werke – ein wunderbares digitales Archiv öffnet hier für den interessierten seine imaginären Pforten. 

Von Jürgen Walters Objekten geht – vielleicht ähnlich den frühen Arbeiten von Max Ernst oder de Chirico – eine starke Präsenz und enorme suggestive Kraft aus, der man sich nicht entziehen kann. Und von der man sich verfolgt, bedrängt und bedroht fühlen können würde. Wäre da nicht der Humor, der einem auch im Umgang mit Jürgen Walter immer begegnet ist. Dieser ganz eigene Humor des Jürgen Walters. Da finden sich Arrangements, Verschwisterungen und behauptete Sinnzusammenhänge, über die man grinsen, einfach den Kopf schütteln muss. Wie der Mann mit dem Bauch voller Schrauben, der in einer eigenartigen Verwunderung – als sei er ein gläserner Mensch – sich selbst in den Bauch schaut. Da wird manchmal ein Satz oder eine Wendung wie „Auf großem Fuße leben“ beim Wort genommen und materialisiert – oft wird unsere überkomplexe Wirklichkeit auf eine Weise radikal reduziert als hätte Jürgen Walter ausschließlich den Gedanken des Kindes in sich selbst gelauscht als er zu arbeiten begann. Da werden Dinge so diebisch, so durchtrieben wörtlich genommen, bis man versteht, dass Verdrehte ist eigentlich unsere Weltwahrnehmung, nicht das mit seiner Schlichtheit kokettierende Kunstwerk, dem wir gerade gegenüberstehen. In der Serie „Symmetrie“ weist eine Arbeit nichts Anderes als identische strahlend weiße „schöne“ Toilettenschüsseln aus. Wer muss denn bei „Symmetrie“ immer an gleich Liebe, Geist und höhere Ordnungen denken?

So ist ein facettenreiches Gesamtkunstwerk entstanden, das sich letztendlich dem Zugang durch Verrätselung ebenso wie durch radikale Vereinfachung entzieht. „Auf und zu“ bedeutet zum einen nur – fast in Kindersprache – , dass ein Wasserahn geöffnet und geschlossen wird, verweist aber auch auf globale Kriege um Ressourcen, auf machtpolitische Spiele um Leben und Tod. Angelockt vom schönen Schein der handwerklich perfekt nachgebildeten zum Teil hyperrealistischen Objekte, von den Schokoküssen auf der Schreibmaschine in „Traum der Sekretärin“ bis hin zu den fleischigen Lippen des „Trinkers“ – steht der Betrachter im Dickicht seiner Selbst, in einer begehbaren absurden, manchmal verträumten, oft beängstigenden Innenwelt.

Dennoch, Jürgen Walter ist ein Gegenwartskünstler auf der Höhe seiner Zeit gewesen, kein nostalgischer Dadaist oder gar ein Surrealist. Sein Werk inkludiert dadaistische und surrealistische Momente, um sie in einen zeitlosen Horizont auf der ewigen Suche des Menschen nach sich Selbst als materialisierte Gedankensplitter, als Blitzideen aus Holz, Glasfaser und Öl einzufangen.

Was die Resonanz auf sein ebenso umfangreiches wie vielgestaltiges Werk angeht, kommt man nicht umhin zu konstatieren, dass Jürgen Walter einer der meistunterschätztesten deutschen Gegenwartskünstler gewesen ist. Fernab von Moden des Kunstbetriebs wie dem digitalen Hype, der Flut an quasidokumentarischen Arbeiten in den letzten Jahren, der gegenwärtigen oft sehr plakativen „Politisierung“ oder der neuen gestisch-expressiv-hedonistischen Malerei, ist er auf beeindruckende, geradezu halsstarrige Weise sich selbst – und vielleicht noch dem frühen Max Ernst oder dem jungen de Chirico – treu geblieben. Treu auch seiner Frau, die erst 19 Jahre alt war, als sie Jürgen kennenlernte. All die Auf und Abs des „wilden“ Berliner Künstlerlebens haben das Liebes- und Künstlerpaar über die Jahrzehnte – anders als so viele andere Künstlerpaare – nie auseinandergerissen. 

Bei meinem letzten Besuch bat Jürgen Walter mich zum Schluss, ihm einen Karton zu bringen. Ich kroch unters Bett und fand einen schwarzen Karton. Ich erwartete Zeichnungen, Skizzen. Doch in dem Karton lagen Fotos. Fotos von Zehra und Jürgen. Voller Begeisterung zeigte mir Jürgen die Bilder. Zehra, mit ihren kurzgeschnittenen schwarzen Haaren, dunkle ausdrucksvolle Augen. Zurückhaltend und gleichzeitig selbstbewusst. Der Satz, den er am meisten wiederholte, lautete: „Ist sie nicht schön?“ 

Wenn ich an Jürgen Walter und Zehra zurückdenke, fallen mir die harmonischen Nachmittage im kleinen, feinen Café „Kücük Kanarya“ (türkisch für „Kleiner Kanarienvogel“) bei uns um die Ecke im Prenzlauer Berg ein. Das Café gehörte Zehras jüngerem Bruder Timur und war unser zweites Wohnzimmer. Gern luden Jürgen und Zehra auch zu sich nachhause in ihr „Wohn-Museum“ ein, ihr fast vollständig in Schwarz und Weiß gehaltenes verwinkeltes Reich, in dem sich immer noch Türen und Räume fanden, die man gar nicht kannte. Dort wurde dann eine bunte Mischung aus türkischer und deutsche Küche offeriert – und dazu eine kongenial bunte Mischung an Gesprächen über Fledermäuse, Gedichte, Botanische Gärten, die Auswahl bestimmter Farben, über seltsame Flugobjekte in Jürgens Werk, über die Leitung von Schreibwerkstätten, zu niedrige Honorare, merkwürdige Menschen, den Sinn von Kriegseinsätzen, den Rückblick auf West-Berlin vor der Wende, den Ausblick auf ein gentrifiziertes Berlin … und das Ganze gewürzt mit vielen, vielen Witzen.

Oft wird die besondere Zusammenarbeit mit Zehra Cirak erwähnt. Die Objekte von Jürgen Walter erhalten, insbesondere bei gemeinsamen Performances, durch das gesprochene Wort im wahrsten Sinne eine „Stimme“. Nie gerieten die Objekte Walters zum rein illustrativen Anschauungsmaterial, nie gerieten die Gedichte Ciraks zum auditiven Beiwerk der Objekte. Jürgen Walters Werk wurde der Öffentlichkeit oft nur durch gemeinsame Auftritte mit der mehr im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit stehenden Zehra Cirak bekannt. Diese Performances hatten ihre eigene Qualität und schafften unvergessliche Stunden – aber Jürgen Walters Werk hat auch für sich allein genommen Bestand.

Gestorben ist Jürgen Walter zuhause, in seinem Atelier. In den Armen seiner Frau, umgeben von Freunden und Familienangehörigen. Nun liegt er auf dem wunderschönen Alten St.-Matthäus Kirchhof in Berlin-Schöneberg. Jürgen Walter, der zu seinen Lebzeiten nie wirklich bekannt wurde, liegt nun direkt neben den stilvollen Grabstätten der Gebrüder Grimm und dem pompösen Familiengrab des berühmten Bankiers und Unternehmers aus dem Kaiserreich, Adolph von Hansemann. Was Jürgen Walter an Geschäftssinn nicht unbedingt hatte oder haben wollte, das hatte er aber reichlich an Phantasie und andersweltlichen Vorstellungen.

Am 21. Juli diesen Jahres ist Jürgen Walter – zu früh an einer schweren Krankheit – gestorben.

© Tanja Dückers, Berlin, im August und September 2014