Höhenflug & Erdenweg

von Yaak Karsunke
Defizit
Fast alle Vögel, sehr viele lnsekten können es. Wir können es nicht: selbst Fliegen. Wir haben Maschinen gebaut, Apparate konstruiert, die fliegen können – und wir mit ihnen. Wir lassen uns fliegen oder werden geflogen. Selber fliegen können wir nur im Traum.

Flugtraum.
Mit ausgebreiteten Armen über einer Stadt, einer Landschaft kreisen, ein sanftes Schweben und Gleiten. Die Temperaturen sind angenehm, die Aussicht ist hervorragend. Mühelos beherrscht man den eigenen Körper ebenso wie die Flugtechnik, den Umgang mit den wechselnden Winden und Luftströmungen. Leichte und langsame Bewegungen genügen, um den Flug zu steuern, die Richtung zu ändern. Vom Landen gibt es keine Träume: man beendet den Flug, indem man aufwacht.

Dädalus I
Der Sage nach ist Fliegen als Fluchttechnik erfunden worden. Der bei König Minos in Ungnade gefallene und zusammen mit seinem Sohn lkarus gefangen gesetzte Dädalus konnte zwar aus dem von ihm selbst entworfenen Labyrinth entkommen – Minos ließ jedoch alle Schiffe bewachen, sodaß die beiden Entflohenen die lnsel Kreta nicht verlassen konnten. Dädalus baute aus Federn, Fäden und Wachs zwei Flügelpaare, mit deren Hilfe er und sein Sohn die lnsel unter und hinter sich ließen.

Höhenrausch
Entgegen den Warnungen seines Vaters schwang sich lkarus in immer größere Höhen. Die Sonne schmolz das Wachs, die Federn Iösten sich. lkarus stürzte ins Meer und ertrank. Sein Vater barg den Leichnam und bestattete ihn, dann setzte er seinen Flug fort. Er landete in Cumae in der Nähe von Neapel, wo er seine Flügel Apollon weihte. Er hat sie nie wieder benutzt.

Dädalus II
Am Morgen des 22.April 1988 tritt der Rennfahrer Kanellos Kanellopoulos, 31 Jahre alt, 72 kg schwer, in die Pedale einer Spezialkonstruktion. Drei Jahre lang haben Wissenschaftler und Techniker am Massachusetts lnstitute of Technologie am Projekt „Dädalus 88“ gearbeitet – entstanden ist ein 32 Kilogramm leichter Flugapparat aus Balsaholz, Aluminium, Kunststoff und Plastikfolie. Der Propeller hat knapp dreieinhalb Meter Durchmesser und wird über Pedale angetrieben. Der neue Dädalus fliegt mit etwa 25 Kilometern pro Stunde in drei Stunden, 54 Minuten und dreißig Sekunden die 119 Kilometer von Kreta zur benachbarten lnsel Santorin. Beim Landeanflug kommt es zu Turbulenzen, der Apparat bricht auseinander, Kanellopoulos stürzt mit den Trümmern ins Meer. Er kann sich aber aus dem Wrack befreien und erreicht schwimmend das Ufer: ein Dädalus, der dem Schicksal des lkarus knapp entgangen ist.

Rekordtraum
Das Experiment von 1988 zeigt, wie virulent der Traum vom Fliegen auch noch nach Jahrtausenden ist – und wie man ihn technologisch verfehlt. Kanellopoulos selbst sagte später: „Das Schönste war eigentlich der Start.“ Der Rest war Schwerstarbeit, sieben Meter über der Meeresoberfläche, auf der die Begleitenden Rettungsboote wesentlich müheloser dahinglitten. Die Kraftanstrengung des Pedaletreters entsprach der von zwei hintereinander absolvierten Marathonläufen,über einen Plastikschlauch saugte er während des Fluges vier Liter einer kohlehydratreichen Spezialflüssigkeit ein: ein menschlicher Verbrenungsmotor, der sich selbst betankt. Was als Verwirklichung eines Traumes geplant gewesen sein mochte, endete als gelungener Rekordversuch.

Traumopfer
Sind die „Selbstflieger“ von Jürgen Walter dem alten Menschheitstraum näher als die Konstrukteure des „Dädalus 88“ ? Ihr Flugwunsch scheint tiefer zu sitzen, höher zu zielen. lhnen würde es zweifellos nicht genügen, sich lediglich in einem noch so hochtechnologischen Apparat abzustrampeln. Sie wollen selbst fliegen und sind bereit, hohe Opfer zu bringen, um dieses Ziel zu erreichen. Was Jürgen Walter uns zeigt, sind diese Opfer: die Selbstflieger selbst.

Flugmagie
Daß Träume sich technisch nicht erfüllen lassen, wußte die Magie, die weiße so gut wie die schwarze. Im Orient flog man auf Teppichen, im Mittelalter auf Besen. Faust flog mit dem Teufel, in dessen Mantel gehüllt. Teppich, Besen, Mantel – Gebrauchsgegenstände, handgefertigt und dann magisch aufgeladen zu Werkzeugen des weißen oder des schwarzen, auch des faulen Zaubers mitunter. Die Technik dagegen setzt auf Apparate und Maschinen.

Menschmaschinen
Die Selbstflieger trachten danach, sich in solche Maschinen zu verwandeln. Sie technisieren sich, bauen sich selbst zu Flugapparaten um. Körperteile werden amputiert und werden durch Equipment ersetzt. Teile von Pilotenkanzeln und Fahrgestellen,Tragflächen, Höhen- und Seitenrudern werden dem eigenen Leib an- und einmontiert. Es entstehen Zwitterwesen aus organischen und industriell gefertigten Teilen Metamorphosen zwischen Selbstverstümmelung und Prothesen. Der Traum vom Fliegen kommt an Krücken voran.

Zielflug
Ein Mensch der sich selbst verstümmelt, ist der neuerdings (in anderen Zusammenhängen) vielzitierte Opfer-Täter par exellence. Er erleidet die Verletzungen, die er sich selbst zufügt – wobei er sich gemeinhin auf ein höheres Ziel zu berufen pflegt. Selbst wenn er es jemals erreichte: er käme dort nur als Verstümmelter an. Solange er noch auf dem Weg ist, sehen wir einen Kamikaze im Anflug auf den eigenen Traum.

Altarbild
Ein möglicher Ort, eine mögliche Lesart für diese Arbeiten Walters wäre eine Maschinen- oder Computer-Kathetrale. Über dem Altar, auf dem dort regelmäßig dem Fortschritt geopfert würde, hinge einer der Selbstflieger als Warntafelbild. Das wäre ein angemessener Platz für eine dieser Reflektions- Erfindungen, auch der Flügelbild-Aufbau einiger dieser Objekte spräche dafür. Freilich gilt die surreal gewandelte Skepsis Jürgen Walters nicht nur der Entwicklung der Technik.

Ideenhimmel
In den schwarzen Kästen der Selbstflieger-Objekte ist mehr als eine Hoffnung begraben. Lang ist die Reihe der gescheiterten Unternehmungen, die alle mit hochgesteckten Zielen begannen, zu deren Erreichung allerdings jeweils beträchtliche Opfer unumganglich waren. Die Opfer wurden erbracht, ohne daß man den Zielen näher kam; jeder Versuch, den alten Adam zum Neuen Menschen umzumontieren, deformierte und verkrüppelte ihn letztlich nur. Die Propheten des jeweiligen Menschenglücks flogen leicht und hoch über diese blutigen Kosten hinweg: Selbstflieger auch sie, und wie diese auch selbst deformiert und verkrüppelt.Noch jeder Höhenflug menschlicher Subjekte, die sich selbst zu Objekten einer besseren Sache machten, endete als Bruchlandung.

Stoßgebet
Die Kretischen Fischer und Hirten, über die Dädalus und lkarus bei ihrer Flucht hinwegflogen hielten die Himmelserscheinungen für Götter. Der Himmelssehnsucht unserer Tage hat der französische Lyriker Jaques Prévert ein Pater Noster‘ entgegengesetzt, das mit den Zeilen beginnt: „Notre Père qui êtes aux cieux – Restez-y – Et nous resteron sur la terre…“ („Unser Vater der du bist im Himmel – Bleib dort – Und wir werden auf der Erde bleiben…“).

Bodenhaftung
Vom Leben auf der Erde erzählen im Werk Jürgen Walters die Schuhe. Im Alltag treten sie gewöhnlich paarweise auf – in seinem Schuhatelier stehen nur Einzelstücke. Ob sie diese Solorollen artistischer Reduktion oder realen Verlusten verdanken, bleibt offen. Vielleicht sind die jeweiligen Besitzer (überwiegend Besitzerinnen) auf einem Bein in dem jeweils anderen Schuh davongehüpft – vielleicht aber ist jeder einzelne Schuh auch das einzige, was von einem einzelnen Menschen übrig geblieben ist.

Fußnote
Wenn es zutrifft, das der Tod eines Menschen eine Katastrophe, der Tod von Millionen dagegen nur eine Statistik darstellt – dann sind diese einzelnen Schuhe auch der Versuch, wenigstens einige der zahllosen Katastrophen aus der Statistik jener Berge von Schuhen zurückzuholen, die in den KZ- Gedenkstätten an die Massenmorde der Nationalsozialisten erinnern.

Erdenweg
Manche dieser Gehwerkzeuge sind witzig, andere verspielt, einige hochmaniriert. An den surrealistischen Paten der Serie erinnert „Magritte meets the press“, aber es werden auch sehr reale Geschichten erzählt: vom Alter („Gigolo“), von Sucht und Drogen („Sister Morphin3“), Gewalt und Krieg („Lieutenant Kijé“). Ihr Einzeldasein scheint sie in eine fast zärtliche Aura der Verlorenheit zu hüllen. (über das magische Aufladen von Gebrauchsgegenständen war schon die Rede.)

Staßenstaub
Einge der Schuhe sind vernutzt und abgetragen, manche haben zerrissene Sohlen und einige dieser Risse Formen, die sie auch als erotische Fetische deutbar machen. Im Gegensatz zu jener kühlen Präzision, mit der er uns die Selbstflieger vor Augen stellt, sieht und zeigt Jürgen Walter die Schuhe mit Wärme und Genauigkeit. Der Himmel ist nach einem Absturz leer – ein Fußgänger hinterläßt Spuren. Jürgen Walters Sympathie gilt dem Bodenpersonal der Höhenflüge.